Peter Handke spreekt over het 'stille' proza van Walter Kappacher.
Peter Handke / Rede zur Verleihung des Hermann-Lenz-Preises an Walter Kappacher, 12. Juni 2004, Schloß Waldenfels, in Reichenthal bei Freistadt
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Versuchen zu umschreiben, was Walter Kappacher ist oder gemacht hat, und in dem er es gemacht hat, was er ist. Ich habe vor einiger Zeit jemanden getroffen, der wie Walter Kappacher in der Gegend von Salzburg lebt, und dieser Mensch aus Salzburg hat mich, als das Gespräch auf Kappacher kam, etwas bedenklich angeschaut: Er hatte nämlich von dem Preis hier erfahren. Und ich habe mich herausgefordert gefühlt, nicht etwa Kappacher zu verteidigen, sondern von seinen Büchern zu erzählen, von dem, was die Melodie oder den Rhythmus seiner Prosa ausmacht. Und ungeschickterweise kam mir dazu das von außen her schwierigste Buch von Walter Kappacher in den Sinn, Silberpfeile.
Schon der Titel mit dem Umschlag, wo, glaube ich, ein Rennwagen abgebildet ist – schon der Titel Silberpfeile und ein Rennwagen auf dem Umschlag machten es schwierig, von dem Buch zu reden. Und das kommt dann auch von der Hauptperson, einem greisen Ingenieur, der unter Hitler bei den Automobilbauten mitgewirkt hat und der einer jener Ingenieure war, welche Bernd Rosemeyer, den vielleicht schon mythischen Rennfahrer betreut haben, damit dessen Rennwagen noch schneller würde, und der auch Zeuge wurde des tödlichen Unfalls – war das 1937 herum, oder 38? –, dem Bernd Rosemeyer zum Opfer fiel (ich erzähle das aus dem Gedächtnis). Und diesem bedenklich mich zu Kappacher anschauenden Mann versuchte ich, die Geschichte wiederzugeben, in der es darum geht, daß der Autor, so sein Plan, vor allem die Geschichte dieses Mannes, dieses Ingenieurs, der dahinsiecht in einem Altersheim in Salzburg, erzählen wollte. Und daß er aber, je länger er mit dieser Geschichte unterwegs war, etwas ganz anderes als die Geschichte allein dieses Mannes, des pensionierten Ingenieurs ihm beim Schreiben in die schöne, wahre Quere kam.
Die zweite Person der Geschichte Silberpfeile ist nämlich ein Motor-Journalist, der für eine einschlägige Zeitschrift arbeitet. Dessen Lebensgefährtin ist gerade abwesend, in Amerika, und er wartet die ganze Zeit auf die Rückkehr dieser Frau. Das gibt der Geschichte, seiner Begegnung mit dem Ingenieur, einen seltsamen Hintergrund, weil der Leser, oder jedenfalls ich, Leser, sich am Anfang weniger für die Geschichte des Nazi-Ingenieurs interessiert, als dafür, wann denn die Frau endlich wieder zu dem Erzähler zurückkommt. Über dreißig, vierzig Seiten werden, wie so oft bei Walter Kappacher, die Motoren, die Pleuelstangen, Ventile, und wie macht man das und jenes am Rennauto noch windschlüpfriger und dergleichen erzählt, und man denkt dabei: Wann, o Himmel, kommt denn endlich die Geliebte des Journalisten zurück, diese Geschichte würde man doch viel lieber erzählt bekommen. Doch allmählich verlieren die Silberpfeile dann das, was auf dem Titelbild und auch im Titel des Romans suggeriert wird, und es kommt eine ganz andere Geschichte zum Vorschein – und das ist das Unerhörte an dem Roman. Und zwar entpuppt sich der fragliche Ingenieur als jemand, der nach Rosemeyers Tod, gegen Kriegsende, in Oberösterreich auf dem Gelände der heutigen Brauerei von Zipf notgedrungen, mehr und mehr gegen seinen Willen, an der Konstruktion der V 2 mitgewirkt hat, jener Rakete, mit welcher die Deutschen noch im letzten Moment den Krieg gewinnen wollten. Und der Erzähler, und das ist das Seltsame, man spürt es, scheint von der eigenen Geschichte, von deren Wendung, selber überrascht, und mit ihm auch Walter Kappacher. Als ob er gar nicht geplant hätte, diese Weiterung in den Horror zu erzählen (obwohl das wahrscheinlich gar nicht stimmt). Und dadurch wird die Geschichte unerhört. Die Schilderung dann der Landschaft und der Leute, der Bauern, von Zipf, dann der Opfer, der in den Minen „zuhauf“ Ums-Leben-Kommenden, der Verbrennenden, dazu der Einheimischen, die nicht reden dürfen über das, was da im Untergrund der Landschaft als Inferno vor sich geht, das macht die Geschichte aus.
Ja, solch eine Geschichte hat Österreich nötig, und so eine Geschichte wie Walter Kappacher sie von den Zwangsarbeitern im Untergrund auf dem heutigen idyllischen Biergelände erzählt, die muß gelesen werden, heute und morgen, auch wenn die Gefahr besteht, wie gesagt, durch die Verschlungenheit der Erzählführung und das Unlustmachende des Anfangs mit Autobestandteilslitaneien und Rennwagen, vielleicht nach dreißig Seiten nicht weiterzulesen. Doch das, was dann passiert, ist eine Expedition des Schreibens, wie man sie sich abenteuerlicher nicht wünschen kann. Und sie ist dabei so unauffällig erzählt, wie eigentlich nur Robert Walser das gekonnt hat. Nur ist das Unauffällige bei Walter Kappacher etwas völlig Unverspieltes – bei Robert Walser ist das Unauffällige zugleich Spiel. Wenn Walter Kappacher zum Beispiel schreibt: „Der Park war spät abends noch stark frequentiert“, dann hätte Robert Walser wahrscheinlich geschrieben: „Der Park, wie man so sagte, war noch stark...“ und so weiter. Walter Kappacher ist ein vollkommen unspielerischer Autor, das ist das Bezeichnende an ihm. Es kommt kein Element von Spiel vor. Es ist, wenn einmal ein Superlativ am Platz ist, der ernsthafteste Autor, den ich kenne. Und zugleich das Paradox: es ist ein beiläufiger Ernst. Es wird an keiner Stelle der Ernst als Ernst eingesetzt. Doch in dieser Beiläufigkeit der Kappacherschen Prosa, wirkt dann doch ein Element von Spiel mit – die Beiläufigkeit als Spiel.
Ich habe fünf, sechs Romane von Walter Kappacher gelesen, der erste davon mit dem Titel Morgen. Und alle seine Bücher sind Varianten; Varianten des Dichters als junger Mann. Aber solche Varianten wie bei ihm hat es noch nie gegeben. Dieser Dichter fängt an als Motornarr und wird dann auch, das ist seine erste Lebensstation, Lehrjunge in einer Werkstätte. Und so wie er, wie Walter Kappacher die Motoren beschreibt, verlieren die alles Bedrohende oder bloß Technische; es ist etwas Liebevolles in dem Erzählen von Motoren. Und das glaubt man ihm, mit dem Lesen, daß Motoren „sprechen“; man sagt ja auch in der Umgangssprache: „Dieser Motor hat einen Spruch“. Es kommt einmal sogar das Wort „Gesang“ für einen der von den Jungen gewarteten Motoren vor. Und er beschreibt den „gurgelnden Viertakt“ beim Umschalten der Rennmotorräder in einer Haarnadelkurve. Und es ist zum Staunen, wie einem Leser, wie mir hier, der ja selber damit überhaupt nichts zu schaffen hat, das Ich, das Walter Kappacher vorstellt, sich durch das Lesen ins eigene Ich verwandelt. Ich, der ich kaum Motoren erfahren habe, erfahre diese als schön Vertrautes, und das ist Lesen für mich. Für manche Lesemomente denkt man darum freilich auch: „Mensch, warum legt der Autor nicht endlich einmal los? Warum bleibt die Prosa immer im Hintergrund?“ Aber dieser Hintergrund des Walter Kappacher ist wie man vom Weltall sagt, ein Hintergrundleuchten, es ist ein besonderer, ein leuchtender Hintergrund. Und dann wieder fragt man sich als Leser: Warum nur gibt es keine Horizonte bei Walter Kappacher? Fast der einzige ein wenig fernere Horizont ist der Blick in Salzburg auf den Kapuzinerberg, mitten in der Stadt, keinmal weitet sich der Blick etwa bis Maria Plain, die Kirche draußen im Land, die wünschte ich mir manchmal als Horizont. Die Horizonte sind anders als bei Hermann Lenz, fast nicht vorhanden, außer die Meter-, Zentimeter- und auch bloß Millimeterabstände in den Maschinen, oder im Büro, wo er in seiner zweiten Phase dann arbeitet. Seltsam, all die Bücher Walter Kappachers haben etwas von diesem Hintergrundleuchten. Eine Beiläufigkeit, bei der mir auch der Vergleich mit einer Oper, die fast nur aus Rezitativen besteht, in den Sinn kam.
Und dann gibt es in jedem seiner Bücher – das rettet sie nicht nur, sondern hebt sie hoch und gibt ihnen Licht – ein zwei Läufe oder Passagen, oder Arien, wo der Autor sein Innerstes ausschwingen läßt. Und ich möchte Ihnen eine dieser Aufschwünge vorlesen, aus dem Buch Ein Amateur, und damit zeigen, wie Kappacher aus den Anläufen, die zu Arien werden, sich wieder zurückzieht, in das Alltägliche, in das völlige Hintergrundschreiben. Auch die Seltsamkeit der Übergänge: von der Lust am Fahren, an den Motoren, die Übergänge oder Furten zum Lesen, zur Kunst, Musik, Literatur. Wie einer, der in Motoren vernarrt ist, zugleich das Lesen liebt. Ein unerhörter Held also. Solche Zusammenführungen machen aus Walter Kappacher einen einmaligen Autor. Ein Beispiel: „Einmal kam ihm auf einer Kuppe, als die Tachonadel auf 120 stand und er zu fliegen meinte, auf seiner Straßenseite ein Wagen entgegen, der die in Richtung Stadt fahrende Kolonne überholte. Simon [so heißt der Held in Ein Amateur] rettete sich, indem er auf die schneebedeckte Wiese auswich, und konnte so einen Sturz gerade noch verhindern. Das schnelle Fahren bei äußerster Konzentration auf die Strecke, Streckenbegrenzung, exaktes Schalten und Bremsen, war für ihn ein Herausgleiten aus der Monotonie des Alltags; wenn er vor dem Firmengebäude von der heißgelaufenen Maschine stieg, fühlte er sich gestärkt, als kehre er heim von einem fernen gelobten Land. Immer öfter, wenn auch nicht ganz so intensiv, empfand er dieses Gefühl – mehr er selbst zu sein, indem er außer sich geriet – auch beim Rezitieren von Dramentexten, manchmal beim Lesen, oder beim Gehen,...“ Alles gehört bei Walter Kappacher demnach zusammen, das Rasen, das Gehen, das Lesen, das Rezitieren von Torquato Tasso, von Shakespearschen Dramen, die Musik von Gluck. Der Held, der Werkstattlehrling, erfährt so einen sprunghaften, überraschenden und zuletzt gerade deshalb einleuchtenden, „buchwürdigen“ Lebenslauf: Die erste Station seines Lebens ist die Mechanikerlehre, seine zweite auf einmal die Schauspielschule – es wird gar nicht begründet warum, es steht sehr oft bei Walter Kappacher „auf einmal“ – „auf einmal“ will Simon Schauspieler werden. Und „auf einmal“ hat er all das wieder satt. Und „auf einmal“ fängt er an zu schreiben. Es gibt keine Begründung, und das ist auch das, was den Leser frei macht zum Lesen, und frei hält im Lesen. Dazu noch ein Beispiel eines dieser essentiellen, arienähnlichen Momente in seinen Büchern: Als der Held oberhalb der Felsenreitschule in Salzburg auf einem Steg mitten im Wald steht und einem Musikstück von Christoph Willibald Gluck lauscht. Er hört die Musik von unten heraufkommen, aus der Felsenreitschule, aus der Tiefe. Und er steht da oben, und es ist ihm, als er auf der Stiege steht, „diese Töne gälten allein ihm. Komm! Komm! schienen die aufgeregten Tonfolgen zu locken, ehe sie zu einem Chorgesang überleiteten. Er hatte damals, als er sich in einem jähen Schwindel mit beiden Händen am Gitter festhalten mußte, nichts von der ehemaligen Sommerreitschule gewußt, die seit den dreißiger Jahren als Aufführungsstätte der Festspiele genutzt wurde. [...] Mit einer wilden Freude war Simon damals, [nachdem er die Musik gehört hatte – auch ein sehr seltenes Wort – „wilde Freude“ bei Walter Kappacher], als dann ein junges Paar, die Frau trug ihr Baby und eine Einkaufstasche, der Mann den Kinderwagen, ebenfalls am Treppenabsatz stehenblieben und horchten, weiter hinaufgestiegen, gesprungen, bis zu dem schmalen Plateau mit den beiden Kastanienbäumen und der Bank, die seither sein Platz war. Zum ersten Mal war er an der Mauer über dem Toscanini-Hof stehen geblieben und hatte auf die Altstadt hinuntergeschaut, und ihm war gewesen, als hätten die Formen der Bauwerke, der Kirchen, der Dächer, der hügeligen Landschaft dahinter [also doch ein Horizont] etwas mit der Musik zu tun, die er eben gehört hatte.“
Als der Roman Morgen erschienen ist, vor fast schon dreißig Jahren, hat Martin Walser eine so mitfühlende wie mitgehende Rezension geschrieben, worin er an einer Stelle ungefähr schrieb: „In Walter Kappacher hat unsere Lebensart einen ernsthaften Feind gefunden“. Ich finde aber, daß dieser Satz zuletzt, trotz seiner Eingängigkeit, nicht zutrifft. Walter Kappacher ist nicht der Feind unserer Lebensart, nein, in all seinen Erzählungen ist er der Feind seiner eigenen Lebensart. Der Autor hebt sich nie einen Moment lang heraus aus den anderen. Er ist wie die anderen, die Leute in der Werkstätte, die Leute im Büro, die Leute in der Schauspielschule, von denen er erzählt. Er ist, und das macht auch das Öffnende seiner Bücher aus, er ist sein eigener Feind. Er erzählt sich als sein eigener Widersacher. Er hält, um wieder einmal mit Ibsen zu kommen, nicht gerade Gerichtstag über sich selbst, aber er ist, was noch fundamentaler wirken kann, nicht einverstanden mit seinem Leben. Und das bis jetzt, scheint mir, in all seinen Büchern. Er ist mit sich wie auch mit den anderen zu keinem Ende gekommen.
Ich will vieles offenlassen, hier nicht all seine Bücher erzählen. Heute in den Feuilletons und wo auch immer, gibt es mehr und mehr Überschriften zu neuen wie alten Büchern und Autoren wie: der „große Autor“; das „großartige Buch“; dieser „wunderbare Roman“. Jedes dritte Buch ist „wunderbar“, „großartig“, jeder zweite Autor ist „groß“. Und gerade die Verfasser solcher Beiwörter beklagen am nächsten Tag wieder den Zustand der Literatur. Bei Walter Kappacher würde ich nie sagen, er sei ein „großer Autor“, ein „großer Schriftsteller“. Es genügt, glaube ich, zu sagen, daß er etwas ganz Seltenes oder selten Gewordenes ist: Er ist Schriftsteller, er ist Autor, er ist ein Urheber (Ur-Heber). Das ist gar nicht so selbstverständlich. Inwiefern ist er Schriftsteller? Gegenläufig zu vielem, nicht allem, was heute geschrieben wird, tut und schafft er etwas: Er macht nicht die Conférence des Zeitgeistes oder die Conférence der neuesten Dinge oder eher Produkte; er ist kein Alleinunterhalter, wie nicht wenige der heutigen Schreiber, die dem Leser so unernst etwas vorspielen, daß diesem, dem Leser, selber nichts mehr zu spielen übrig bleibt. Allzuviel heute Geschriebenes ist eine Art Alleinunterhaltung. Walter Kappacher dagegen schafft und tut, und, vor allem, vorerzählt (nicht nacherzählt), läßt mich, den Leser, den Anderen, den anderen Menschen sehen. Und er läßt mich den anderen Menschen sehen zusätzlich als den Fremden – etwas, was wir inzwischen wieder beinahe vergessen haben. Und deswegen ist er – „groß“ oder „großartig“ oder „wunderbar“ gestrichen – Schriftsteller, ein Seltener.
Ich habe gerade die Tagebücher des Malers Oskar Schlemmer aus den zwanziger Jahren gelesen. Schlemmer hatte mit sich als Maler vergleichbare Probleme mit uns Heutigen, ob Schreibern oder Malern: Soll man noch schreiben/malen? Oder soll man photographieren? Oder soll man mündlich werden? Oder machen wir wie heute Installationen? Das Malen ist zu Ende, fürchtet Schlemmer schon vor achtzig Jahren, und sagt dann doch sehr wehmütig an einer Stelle, nachdem er sich in seiner Zeit am Bauhaus für eine lange Episode von den Farben und Formen abgekehrt hat. Ungefähr zitiert: „Ach, ich möchte doch zum Malen zurückkehren, denn der und der hatte recht, als er sagte: Als wir noch gemalt haben, als wir noch Maler waren, da waren wir noch bessere Menschen“. Und so sehe ich auch die Bücher Walter Kappachers: Er schreibt, seine Erzählungen sind in der Tat und Wort für Wort geschrieben, und deswegen sind auch wir, die Leser, bessere Menschen.